Berlin/Bonn, 10.03.2021
Heute hat das Bundeskabinett die Weiterentwicklung 2021 der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie beschlossen. „Dies ist kein großer Sprung nach vorne, aber die Bundesregierung öffnet damit die Tür für einen strukturellen Neuanfang zu Beginn der nächsten Wahlperiode“ kommentierte Professorin Dr. Anna-Katharina Hornidge, Co-Vorsitzende von SDSN Germany.
Das Deutsche Lösungsnetzwerk für nachhaltige Entwicklung, SDSN Germany, hatte im letzten Jahr fünf Vorschläge zur strukturellen Weiterentwicklung der Strategie und Empfehlungen zur Nachhaltigkeitspolitik im Krisenmodus vorgelegt. „Wir begrüßen, dass unsere Anregung, sich auf sechs Schlüsseltransformationen und fünf übergreifende Hebel zu fokussieren, im Grundsatz aufgegriffen wurde“, unterstrich Professorin Dr. Gesine Schwan, ebenfalls Co-Vorsitzende des Netzwerkes.
Als sechs Schlüsseltransformationen identifizierte SDSN Germany: Energiewende; Kreislaufwirtschaft; Bau- und Verkehrswende; Agrar- und Ernährungswende, schadstofffreie Umwelt; menschliche(s) Wohlbefinden und Fähigkeiten, soziale Gerechtigkeit. Als fünf zentrale Hebel um diese zu ermöglichen empfahl SDSN Germany vor allem verbesserte Governance; Gesellschaftliche Mobilisierung und Teilhabe; Finanzen; Forschung, Innovation und Digitalisierung; Internationale Verantwortung und Zusammenarbeit in den Blick zu nehmen.
Allerdings fehlten in der neuen Strategie, so Schwan weiter, bei wichtigen Hebeln wie Governance, gerade auch in Kommunen und Regionen, gesellschaftliche Mobilisierung und Teilhabe sowie insbesondere auch beim Hebel Finanzen entscheidende neue Schritte. Unbefriedigend sei weiter, dass die Chancen einer gegenseitigen Stärkung von Deutscher Nachhaltigkeitsstrategie und European Green Deal zu wenig genutzt wurden. So habe die deutsche Europapolitik bislang nicht entscheidend dazu beigetragen, den European Green Deal zum Instrument einer umfassenden europäischen Strategie zur Umsetzung der 2030 Agenda für nachhaltige Entwicklung mit ihren 17 Zielen (Sustainable Development Goals, SDGs) zu machen. Umgekehrt fehle dem Entwurf des 24 Milliarden Euro-schweren Deutschen Aufbau- und Resilienzplans (DARP) zur Umsetzung der EU-Mittel im Kontext der Corona-Krise jede Bezugnahme auf die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie. Damit sei es, so Anna-Katharina Hornidge, trotz zahlreicher Bezugnahmen der neuen Nachhaltigkeitsstrategie auf die Pandemie nicht gelungen, diese wirkungsmächtig als Instrument und Ausdruck der Krisenbewältigung zu gestalten. Hierfür sei auch die Beteiligung der relevanten Nachhaltigkeitsakteure in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft an zentralen wirtschafts- und finanzpolitischen Prozessen wie dem Europäischen Semester nötig. Vergleichbares gelte auch für den Transformationsbereich „Menschliches Wohlbefinden und Fähigkeiten, soziale
Gerechtigkeit“. Die Pandemie habe hier Schwachstellen im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialsystem offengelegt, die von der Datenlage her in der neuen Nachhaltigkeitsstrategie noch gar nicht angemessen abgebildet werden konnten.
Erfreulich sei, so Hornidge, dass die neue Strategie im Bereich des Hebels „Internationale Verantwortung und Zusammenarbeit“ grundsätzlich alle externen Politikfelder wie z.B. auch die Außen- oder die Handelspolitik anspricht. Internationale Zusammenarbeit für nachhaltige Entwicklung dürfe sich heute nicht mehr auf die Entwicklungs- und Schwellenländer beschränken, sondern müsse alle Länder, ärmere wie reichere, ansprechen und auf gegenseitige Wirkung ausgelegt sein. In diesem Zusammenhang begrüßte Hornidge die neuen Indikatoren zu „Nachhaltiger Konsum – Konsum umwelt- und sozialverträglich gestalten“. Damit würden die weltweiten und planetaren Wirkungen inländischer Konsummuster in den Blick genommen. Leider seien hier aber nur graduelle Verbesserungen abgestrebt und keine quantifizierten Zeitziele gesetzt. „In Deutschland begehen wir den Weltüberlastungstag inzwischen bereits jeweils im April eines Jahres. Wir konsumieren und produzieren, als hätten wir drei Erden. Das Ausmaß, in dem wir global die Umwelt in Anspruch nehmen, müssten wir eigentlich umgehend um zwei Drittel reduzieren,“ stellt Hornidge fest. Dies verweise, so Schwan, auf ein weiteres Grundproblem der Strategie: In vielen Bereichen setze sich die Bundesregierung in der Nachhaltigkeitsstrategie nur wenig ambitionierte Ziele und bilde auch die Lebenswirklichkeit der Menschen nur unzureichend ab. „Wenn die Strategie beim Indikator ‚Bezahlbarer Wohnraum‘ eine Sonne („Ziel wird (nahezu) erreicht“) scheinen lasse, ist dies genauso unbefriedigend wie die ebenfalls tendenziell heiter bis sonnigen Zahlen bei Armut und Ungleichheit“, so Schwan.
Aus Sicht von Hornidge und Schwan enthält die Strategie an vielen Stellen mühsam erarbeitete Schritte nach vorne. Die strukturelle Anlage der Strategie und ihre Governance müssten allerdings deutlich weiterentwickelt werden. Hierzu müssten die zeitlichen Rhythmen von Nachhaltigkeitsstrategie und politischen Schlüsselprozessen wie den Koalitionsverhandlungen besser verknüpft werden. Deshalb sei zu begrüßen, dass der Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung noch in dieser Legislatur eine politische Erklärung zu den Perspektiven der Nachhaltigkeitspolitik verabschieden wolle. Diese könnte dann, so die Ansicht der Bundesregierung, zu einem Grundsatzbeschluss zur Strategie nach der Regierungsbildung in der neuen Legislatur führen. Hornidge und Schwan: „Die Tür zu einer wirksameren Nachhaltigkeitspolitik wurde damit ein klein wenig mehr geöffnet.“
Die heute vom Bundeskabinett beschlossene Weiterentwicklung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie löst die 2016er Fassung der Strategie ab, die sich erstmals an den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) orientierte. Die SDGs wurden 2015 bei den Vereinten Nationen von allen Staats- und Regierungschefs der Welt beschlossen (2030 Agenda für
nachhaltige Entwicklung) und gelten in allen Ländern. Die Bundesregierung beabsichtigt, noch in diesem Jahr ihren zweiten Freiwilligen Bericht zu Umsetzung der 2030 Agenda bei Hochrangigen Politischen Forum für Nachhaltige Entwicklung (HLPF) der Vereinten Nationen vorzulegen.