21.11.2022 Online bei 49security von Prof. Dr. Anna-Katharina Hornidge

Bitte keinen Nationalismus oder Eurozentrismus: Eine Kooperationsstrategie für das globale Gemeinwohl

Erstveröffentlichung des Beitrags: 49security

Deutschland muss die Zeitenwende global verstehen. Das heißt: Die politische Antwort auf sie darf nicht allein mit Blick auf den deutschen und europäischen Kontext formuliert werden. Ein Plädoyer für mehr globale Solidarität.

Die Diskussionen zur Nationalen Sicherheitsstrategie laufen auf Hochtouren. Außenministerin Baerbock hat ihr einen breiten Sicherheitsbegriff zugrunde gelegt, ausgerichtet auf den Menschen und die proaktive Gestaltung von Zukunft. Es geht dabei nicht nur um Sicherheit vor Bedrohungen, sondern insbesondere für eine von Frieden geprägte, für eine nachhaltige Zukunft. Geprägt wird der Diskurs jedoch aktuell vor allem von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, von Deutschlands Verhältnis zu China sowie von Fragen der deutschen und europäischen Sicherheit, die primär mit Abwehr im Sinne von Verteidigung und Grenzziehung zu tun haben. Ist dies die ​„Zeitenwende“, von der Bundeskanzler Scholz gesprochen hat? Eine Wende hin zu Sicherheit durch Abwehr? 

Erosion des multilateralen Systems

Russlands Aggression gegen die Ukraine markiert nicht nur einen Einschnitt in der Geschichte Europas, sondern ist auch Teil und Ausdruck einer weltweiten Zeitenwende. Seit Jahren sind auf allen Kontinenten sowohl zunehmende geopolitische und regionale Spannungen als auch gesellschaftliche Polarisierung und politische Autokratisierungstendenzen zu beobachten. Gerade in Gesellschaften, in denen die Lebensgrundlagen der Menschen stark von natürlichen Ressourcen abhängig sind, fördern die Klima- und Biodiversitätskrise einen weiteren Anstieg sozialer und ökonomischer Ungleichheiten. Gesellschaftliche Fragmentierungen und das Erstarken autoritärer Regime hängen eng zusammen und gehen mit einer Autokratisierung des internationalen Rechts sowie einer Schwächung des Multilateralismus einher. 

Im Jahr 2022 leben 70% der Weltbevölkerung in Autokratien – das Ergebnis eines Trends, der durch die Covid-19-Pandemie weiter verstärkt wurde. Der ​„unipolare Moment“ der Weltpolitik, der nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in verschiedenen US-geführten (und oft vom UN-Sicherheitsrat gebilligten) militärischen Interventionen Ausdruck fand, ist spätestens mit dem internationalen Abzug aus Afghanistan vorbei. Gleichzeitig ermöglichte multilaterale Zusammenarbeit in den letzten beiden Jahrzehnten wichtige globale Meilensteine wie die Bewältigung der Weltfinanzkrise 2008/​2009, die Verständigung auf die universelle Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung und das Pariser Klimaabkommen (beide in 2015), aber auch den Abschluss des dann vom UN Sicherheitsrat gebilligten Abkommens zum iranischen Atomprogramm im selben Jahr. Nicht nur dank der letzten US-Administration unter Präsident Donald Trump ist dieser ​„multilaterale Moment“ heute verklungen. Das haben zuletzt vor allem die unzureichenden Antworten der Weltgemeinschaft auf die Pandemie sowie ihre sozialen und wirtschaftlichen Folgen gezeigt. 

Die Zeitenwende global verstehen

Willy Brandts Ausführungen zu einer Weltinnen- und Friedenspolitik, formuliert in den 1970er und 1980er Jahren, sind wieder aktuell: Die globalen Herausforderungen – Klimawandel, weltweite Gesundheits‑, Ernährungs- und Schuldenkrisen sowie globale Machtverschiebungen und die Krise des Multilateralismus – sind zu komplex, zu dynamisch, als dass sie durch eine weitgehend auf Abwehr und Verteidigung zielende Logik bewältigt werden könnten. Viele aufstrebende Länder zweifeln inzwischen an den Möglichkeiten, ihre Potentiale im Rahmen der bestehenden internationalen Ordnung entfalten zu können. Beides birgt Konflikt- und Gewaltpotential – innerhalb von Gesellschaften und zwischen ihnen.

Die internationalen Reaktionen auf Russlands Angriffskrieg illustrieren diese veränderte Lage. Zwar verurteilte die UN-Generalversammlung den Angriff auf die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine mit einer überwältigenden Mehrheit von 141 Stimmen bei nur fünf Gegenstimmen. Unter den 35 Enthaltungen fanden sich neben China aber auch größere Demokratien wie Indien und Südafrika sowie knapp ein Drittel der Staaten Afrikas. Weitere 12 Länder erschienen gar nicht zur Abstimmung. 1 Für die meisten dieser Länder war es offenbar wichtiger, eine ​„Parteinahme“ zu vermeiden, als Russlands Völkerrechtsverletzung klar zu verurteilen. Diese Zurückhaltung ist noch größer, wenn es um Sanktionen gegen Russland geht. Trotz der unzweideutigen Verurteilung des russischen Angriffs durch einen Großteil der internationalen Staatengemeinschaft haben relativ wenige Länder 2 tatsächlich Sanktionen gegen Russland verhängt. Einige andere Staaten versuchten indes, in der veränderten Lage wirtschaftlichen Nutzen aus neuen Kooperationen mit Russland zu ziehen.

Dringend nötig: Eine Kooperationsstrategie für das globale Gemeinwohl

Deutschland muss die Zeitenwende global verstehen. Das heißt: Die Antwort auf sie darf nicht allein im Bereich der deutschen und europäischen Sicherheits- und Außenpolitik gesucht werden. Eine friedliche Zukunft kann nicht über Abwehr alleine gesichert werden – es braucht dafür breite Partnerschaften über Europa und die G7-Länder hinaus. Deutschland muss verlässliche Allianzen mit den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas schmieden: mit den großen Schwellenländern ebenso wie mit Hoch- und Niedrigeinkommensländern. Diese können nicht mit der ​„gefährlichen Logik eines Nullsummenwettbewerbs“ gewonnen werden. Gefordert ist genuine Kooperation in gemeinsam definierten Handlungsfeldern, die geprägt sein muss von gegenseitigem Respekt und Glaubwürdigkeit. 

Fünf Leitprinzipien für eine globale Kooperationsstrategie:

  1. Europäisch & geostrategisch: In Europapolitik und gemeinsam mit EU die Dekade der Umsetzung der SDGs durch Europäischen Green Deal und die Global Gateway unterstützen und weiterentwickeln. 
  2. Kooperativ & kohärent: Strategische Partnerschaften mit Ländern und Zivilgesellschaften aller Kontinente pflegen; über größere Politikkohärenz zwischen internen und externen Politikfeldern in die eigene Glaubwürdigkeit investieren. 
  3. Solidarisch & zukunftsorientiert: Den Ausbau von Sozial‑, Gesundheits- und Bildungssystemen weltweit gestalten, auf globale Agenden und in bilaterale Austausche nehmen. 
  4. Transformativ & klimastabilisierend: Die Rahmenbedingen für Wirtschafts- und Sozialsysteme weltweit so weiter ausgestalten, dass gleichzeitig Dekarbonisierung, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und der Abbau sozialer Ungleichheiten vorangetrieben werden. 
  5. Demokratisch & friedvoll: Ein belastbares Bekenntnis zu demokratischen Werten in der Außen- und Innenkommunikation und gemeinsame Strategieentwicklung für den Schutz der Demokratie, für Konfliktprävention und Demokratieförderung.

Dafür braucht es einer Zeitenwende im politischen Handeln. Deutschland sollte eine im Dialog mit Partnern entwickelte globale Strukturpolitik anstreben, die sich mit den internationalen Entwicklungen der letzten Jahre auseinandersetzt und Werte und Grundprinzipien so auf die veränderte Weltlage bezieht, dass neue Strategien möglich werden. Einer primär auf Gefahrenabwehr ausgerichteten nationalen Sicherheitsstrategie sollte die Bundesregierung eine Kooperationsstrategie für das globale Gemeinwohl an die Seite stellen: gestaltet als Suchprozess, orientiert an den Zielen nachhaltiger Entwicklung (SDGs), respektvoll gegenüber vielfältigen Zukunftsvorstellungen, global solidarisch und gleichzeitig geleitet von demokratischen, freiheitlichen und emanzipativen Werten.

Dabei helfen können fünf Leitprinzipien:

Europäisch und geostrategisch: Nachhaltigkeit zum Kernziel einer souveränen EU machen

Deutschland sollte seine nationalen sowie die europäischen Anstrengungen, einen wirkungsvollen Beitrag zur Dekade der Umsetzung der SDGs zu leisten, verstärken. Dafür gilt es, wichtige Initiativen wie den europäischen Green Deal und die Global Gateway zu unterstützen und weiterzuentwickeln. Der Green Deal wurde von der Europäischen Kommission als integraler Bestandteil der Umsetzung der Agenda 2030 vorgestellt. Die konkrete Ausgestaltung der europäischen Politik, gerade auch mit Blick auf NextGenerationEU und die Global Gateway-Initiative, fällt jedoch hinter dieses Bekenntnis zurück. Vor diesem Hintergrund sollte Deutschland gegenüber der Europäischen Kommission darauf hinwirken, ein integriertes Konzept zur Umsetzung der SDGs im Inneren der EU und nach außen – inklusive in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) – zu entwickeln sowie dieses in allen ihren Handlungsfeldern und in die Öffentlichkeit klar zu kommunizieren. Der nächste globale SDG-Gipfel im September 2023 kann hier als Meilenstein dienen. 

Kooperativ und kohärent: Multiple Krisen über Allianzen bewältigen

Deutschland und die EU müssen gezielt in langfristige strategische Partnerschaften mit Ländern und Zivilgesellschaften aller Kontinente investieren. Um der eigenen Glaubwürdigkeit willen müssen deutsches und europäisches Handeln dafür kohärenter werden – über EU-interne wie auch externe Politikfelder hinweg. Funktionierende Allianzen fußen auf gegenseitigem Vertrauen und Beziehungen auf Augenhöhe. Gegenüber den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas gibt es hier zum Teil großen Nachholbedarf. Es bedarf aber auch weiterhin gemeinsamer politischer Formate – im Kontext der G20, der Vereinten Nationen ebenso wie in themenspezifisch definierten Länderpartnerschaften – in denen Zukunft und Sicherheit gemeinsam gestaltet werden können. Das sollte explizit auch nicht-demokratische Staaten miteinschließen.

Solidarisch und zukunftsorientiert: In gesellschaftlichen Zusammenhalt investieren

Die Covid-19-Pandemie hat deutlich gemacht, wie wichtig gesellschaftlicher Zusammenhalt und Resilienz als Stabilisatoren angesichts gravierender Umbrüche sind. Gesellschaften mit leistungsstarken Gesundheits‑, Sozial- und Bildungssystemen begegnen Krisen und ihren häufig nur bedingt vorhersagbaren Dynamiken im Schnitt sehr viel besser. Dies gilt sowohl für die akute Bewältigung als auch für die Erholung und den Wiederaufbau im Nachgang. In ihrer eigenen Politikgestaltung und durch gezielte Investitionen sollten Deutschland und Europa einerseits darauf hinwirken, die Sozial‑, Gesundheits- und Bildungssysteme weltweit zu stärken. Gleichzeitig ist es an ihnen, in Foren wie den G7 und G20 sowie auf Ebene der Vereinten Nationen und im bilateralen Austausch mit anderen Ländern Wege zu bereiten, um entsprechende Prioritätensetzungen und Umverteilungen durch Staaten und private Akteure zu erreichen. 

Klimastabilisierend: Den sozial-ökologischen Wandel partnerschaftlich vorantreiben

Deutschland sollte es sich zur Aufgabe machen, Wirtschafts- und Sozialsysteme weltweit so mitzugestalten, dass die nötige Reduktion der CO2-Emissionen mit wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und einem nachhaltigen Umbau der globalen Produktionssysteme sowie einem Abbau sozialer Ungleichheiten verschränkt werden. Das erfordert unter anderem eine – gemeinsam mit Zentralbanken und den Entwicklungsbanken entwickelt und auf Nachhaltigkeit ausgerichtete – Reform der Finanzsysteme. Die internationalen Finanzinstitutionen und wichtigsten Geberländer sollten eine weltweite Schuldenumstrukturierung sowie gegebenenfalls auch einen Schuldenerlass 3 an klare Nachhaltigkeitskriterien knüpfen. Auf europäischer Ebene sollte Deutschland dafür eintreten, dass sich die EU insbesondere in ihrer Handelspolitik dafür einsetzt, dass die SDGs erreicht werden. Im Rahmen der Handels- und Wirtschaftsabkommen der EU, beispielsweise, gilt es Transformationspartnerschaften zu fördern, die es erlauben, Wertschöpfungs- und Lieferketten so umzubauen, dass nachhaltigere Produktions- und Konsummuster möglich werden. 

Demokratisch und friedvoll: Demokratie weltweit schützen und fördern

Demokratien führen keine Kriege gegeneinander. Diese von Immanuel Kant bereits vor 235 Jahren formulierte Erkenntnis gewinnt mit dem zunehmenden Erstarken autoritärer Regime an neuer Aktualität: Kriegsbereitschaft und ‑gefahr nehmen zu – sowohl zwischen autoritären Staaten als auch zwischen Autokratien und Demokratien. Strukturen für inklusive Entscheidungsprozesse, Konfliktprävention und ‑resolution müssen jetzt gefördert werden, um Frieden zu sichern. Das setzt ein klares Bekenntnis zur Demokratie nicht nur nach innen, sondern auch gegenüber Deutschlands Partnern in der EU, den G7 und G20 und weltweit voraus. Ein solches Bekenntnis darf weder globale Spaltungen vertiefen, noch mit scheinheiliger Doppelmoral (wie beim Summit for Democracy) einhergehen. Stattdessen sollte Deutschland im kontinuierlichen Austausch mit Partnerländern aller Regimetypen ein menschenwürdiges, friedvolles und freiheitliches Demokratienarrativ leben und dieses im Sinne der Wehrhaftigkeit nach innen und außen verteidigen. Dafür sollten der Schutz der Demokratie und ihre Förderung in der Nationalen Sicherheitsstrategie verankert und diese in Beziehung zu anderen relevanten Strategien, beispielsweise der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, gesetzt werden.

Die Zeitenwende als ​„Call to Action“

Sicherheit – im Sinne eines friedvollen Miteinanders und Freiseins von Angst – ist möglich, auch in einer Welt multipler Krisen. Sie bedarf jedoch Kooperation und verlässlicher, gut gepflegter Partnerschaften mit Ländern auf allen Kontinenten. Die von Bundeskanzler Scholz ausgerufene Zeitenwende sollte nicht nur Ausdruck einer veränderten Weltlage sein. Wir sollten sie vor allem als einen ​„Call to Action“ verstehen – für politisches Handeln, das den Herausforderungen einer dynamischen Welt gerecht wird. Eine primär auf nationale und europäische Abwehr ausgerichtete Sicherheitsstrategie leistet hierzu einen wichtigen Beitrag: Sicherheit vor Gefahren. Sicherheit für etwas, für Frieden und globales Gemeinwohl, verlangt jedoch mehr: eine globale Kooperationsstrategie, anhand derer Deutschland und Europa in der Welt Politik solidarisch gestalten.

1 Abwesenheit bei UN-Generalvollversammlung – Von diesen hatte lediglich Venezuela aufgrund ausstehender Beitragszahlungen zeitweise kein Stimmrecht.

2 Sanktionen gegen Russland – Bislang sind das: die G7-Staaten, die EU und ihre Mitgliedstaaten sowie Island, Neuseeland, Norwegen, die Schweiz, Südkorea und Taiwan.

3 Schuldenerlass – Beispielsweise im Rahmen des 2020 initiierten Common Framework for Debt Treatment beyond DSSI (Debt Service Suspension Initiative).

Der Beitrag wurde durch zahlreiche Diskussionen im IDOS – German Institute of Development and Sustainability (ehemals Deutsches Institut für Entwicklungspolitik – DIE) und darüber hinaus ermöglicht.

Der Autor / Die Autorin

Prof. Dr. Anna-Katharina Hornidge

Direktorin German Institute of Development and Sustainability (IDOS) und Vorsitzende des Lenkungsausschusses von SDSN Germany