27.10.2021 Biodiversität von Dr. Gregor Hagedorn

Keine Biosphäre, kein Leben

Wir Menschen sind Teil der Biosphäre dieses Planeten. Wenn wir unseren Lebensraum verändern, ist dies völlig normal. Andere [...]

Wir Menschen sind Teil der Biosphäre dieses Planeten.

Wenn wir unseren Lebensraum verändern, ist dies völlig normal. Andere Organismen tun dies ebenfalls. Allerdings haben in den letzten 200 Jahren unsere Veränderungen global eine vermutlich einmalige Größenordnung erreicht. Wir sind sehr „erfolgreich“ und haben aus einem Planeten natürlicher Ökosysteme mit inselartigen menschlich dominierten Gebieten, einen durchgehend von Menschen geprägten Planeten gemacht. Die Inseln sind inzwischen die noch relativ naturnahen Ökosysteme.

Die Veränderungen sind so groß, dass sie erdgeschichtlich auch in vielen hundert Millionen Jahren noch feststellbar sein werden. Man spricht daher inzwischen auch vom „Zeitalter des Menschen“, dem „Anthropozän“.

Wie die anderen Organismen unserer Biosphäre auch, passen wir Menschen uns im Laufe der Zeit unserem sich verändernden Lebensraum an. Ähnlich wie bei einigen anderen Tieren, passiert dies nicht nur mittels genetischer, sondern auch mittels kultureller Evolution. Aber, obwohl wir Menschen zweifellos die Weltmeister in kultureller Evolution sind, geschieht die Anpassung an unsere neue Situation im Anthropozän derzeit nicht ausreichend schnell.

Wir alle können Konsequenzen unserer Handlungen durchaus voraussehen und entsprechend handeln. Vermutlich legen die meisten Menschen, denen es möglich ist, Geld für ihren Ruhestand zurück. Viele Eltern legen Geld für die Ausbildung ihrer Kinder zurück. Aber im planetaren Maßstab, wenn es um die Zukunftssicherung einer funktionierenden Biosphäre geht, scheint dies nicht so gut zu funktionieren. Zu viele Menschen scheinen kognitiv oder emotional nicht in der Lage zu sein, die Verantwortung für die künftigen Folgen ihrer heutigen Handlungen zu übernehmen.

Vielleicht denken viele Menschen nach Artikel drei des „kölschen“ Grundgesetz: „Et hätt noch emmer joot jejange“, also: „Bisher ist doch immer alles gut gegangen!“ Vielleicht hoffen wir das alle. Aber das „bisher“ zählt eben nicht, wir sind in einer neuen Lage. Zwar haben wir auch früher schon zum Schaden aller auf lokaler Ebene Ökosysteme zerstört. Nur: Früher war ein durch gesellschaftliche Fehlentscheidungen bedingter Zivilisationskollaps jeweils lokal begrenzt. Im “Anthropozän”, dem Zeitalter des Menschen, könnte ein Kollaps hingegen die ganze Menschheit betreffen.

Die Biosphäre wird nicht nur durch die menschengemachte Erderwärmung beeinträchtigt, deren Folgen alleine schon dramatisch sind. Problematisch ist hier weiterhin vor allem unser Umgang mit terrestrischen und marinen Ökosystemen, die wir für Rohstoffgewinnung, Ernährung, Verkehr und weitere Zwecke degradieren oder zerstören. Die Regeneration dieser Ökosysteme ist in vielen Fällen zwar möglich, erstreckt sich dann aber unter Umständen über Jahrzehnte bis Jahrhunderte. Besonders kritisch ist die irreversible Zerstörung der Vielfalt des Lebens, der Biodiversität. Dahinter verbergen sich genetische Vielfalt, Artenvielfalt sowie die Vielfalt der Ökosysteme. Die Biodiversität auf unserem Planeten ist in Zeiträumen entstanden, die die gesamte Existenz unserer Art Homo sapiens um ein Vielfaches übersteigt. Sie ist ein einmaliges Erbe der gesamten Menschheit, dessen Zerstörung irreversibel ist.

Warum zerstören wir dieses Menschheitserbe, obwohl dies höchstwahrscheinlich katastrophale Folgen für unsere Biosphäre hat und unsere künftigen Handlungsmöglichkeiten drastisch beschränkt? Eine dieser Ursachen ist meines Erachtens unsere menschliche Selbstüberschätzung, die häufig auch eine Überschätzung des Standes von Wissenschaft und Technik ist. Nach meiner anekdotischen Erfahrung glauben viele Menschen irrtümlicherweise, dass Wissenschaftler*innen unseren Planeten und die natürlichen Prozesse sehr gut verstehen und Techniker*innen, Ingenieur*innen und Landwirt*innen auf dieser Basis unsere Welt gut managen. Und dass wir daher zum Beispiel wissen, welchen Artenreichtum wir benötigen und auf welche Arten man im Zweifelsfall gut verzichten kann.

Erdsystemwissenschaftler*innen hingegen berichten oft, dass sie noch viel zu wenig wissen. Zum Beispiel wissen sie von der Existenz von Kipp-Punkten, deren Überschreiten zum Teil abrupte, zum Teil unumkehrbare Auswirkungen haben werden. Die genaue Lage (z. B. aber welcher globalen Mitteltemperatur welcher Kipp-Punkt eintritt) und die genauen Veränderungsdynamiken können sie jedoch nur grob abschätzen.

Biolog*innen berichten zum Beispiel, dass sie bisher nur einen Bruchteil der Arten auf diesem Planeten überhaupt benannt haben – und nur von wieder einem Bruchteil dieser Arten ihre vielfältigen Beziehungen in Ökosystemen gut verstehen. Dies führt zum Beispiel dazu, dass aus anderen Ländern eingeschleppte Arten (invasive Arten, „Neobiota“) immer wieder zu Problemen führen und die Ökosysteme oder Land- und Forstwirtschaft massiv beeinträchtigen.

Handeln angesichts teilweiser Unsicherheiten ist sicher nichts Ungewöhnliches. Wenn Ingenieur*innen eine Brücke bauen, sind beispielsweise nicht alle Belastungsgrenzen präzise berechenbar. Die Lösung bieten Sicherheitszuschläge: Man baut die Brücke entsprechend tragfähiger als dies eigentlich erforderlich wäre.

Aber wo sind unsere Sicherheitszuschläge für den Erhalt der Biosphäre?

Wir sind als Menschheit in der Lage, ungeheure Zerstörungskräfte zu entfesseln. Nicht nur durch Atombomben, sondern auch durch unsere Land-, Forst-, Fisch-, Rohstoff- und Energiewirtschaft. Und gleichzeitig verstehen wir die vielfältigen Funktionen unseres Lebenserhaltungssystems nur höchst unvollständig und können es in vielen Fällen kaum reparieren. Diese Dualität von großer Zerstörungsmacht und geringer Bewahrungsmacht ist für viele Menschen schwer verständlich. Sie vertauschen das Bild einer unendlich tragfähigen „Mutter Natur“, in der die Menschheit sich sorglos ausbreiten kann, mit dem Bild eines schutzbedürftigen Planeten, der von Menschen sorgfältig in den Händen gehalten und gepflegt wird. Beide Bilder führen in die Irre.

Denn wir Menschen sind es, die trotz unserer großen Zerstörungsmacht unendlich abhängig sind von der funktionierenden Biosphäre unseres Planeten Erde. Die Biosphäre überlebt, auch nach drastischen Eingriffen, in neuer Form auch ohne uns. Wir selbst sind aber von genau dieser möglichst unveränderten Biosphäre zutiefst abhängig. Das viel treffendere Bild ist das von dem Ast, auf dem wir sitzen und an dem wir sägen.
Menschen können planen und steuern. Und der Blick in die Geschichte lehrt, dass wir unsere Gesellschaft in Krisenzeiten ausreichend rasch verändern können. So sahen viele Menschen Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg als politisch und wirtschaftlich verloren an. Fachleute in Deutschland prognostizierten, dass ein wirtschaftlicher Wiederaufbau viele Jahrzehnte dauern würde. Es kam anders, alles passierte viel schneller als prognostiziert, weil die Veränderungsgeschwindigkeit unserer Gesellschaft keine Konstante ist.

Würde man das Veränderungstempo der vergangenen Jahre bei der Schädigung der Biosphäre weiterhin fortschreiben, dann bestünde tatsächlich wenig Hoffnung für die heute lebenden jungen Menschen. Sie müssten dann ohne den Reichtum der genetischen Vielfalt (welcher naturverträgliche Lösungen ermöglichen kann), bedrängt von immer häufigeren Extremwetterereignissen (welche Wohnungen, Verkehrs-, Ernährungs- und Produktionsinfrastrukturen zerstören), möglicherweise unter Zusammenbruch von Friedenssicherungssystemen und gesellschaftlichem Konsens jene Leistungen vollbringen, die wir aus Überheblichkeit und Selbstzufriedenheit vor uns hergeschoben haben.

Daher laden wir unsere Mitbürger*innen dazu ein, mit uns gemeinsam zu beschließen: Die Zeit des Wartens ist vorbei. Handeln kann nicht beliebig verschoben werden. Die Zeit der Verantwortungsübernahme für alle unsere Lebensgrundlagen, für Klima, Biodiversität, Böden, Stoffkreisläufe, Ressourcen und Belastungen durch Chemikalien und Kunststoffe muss in Deutschland in dieser Legislaturperiode beginnen.

Für den Handlungsbereich der Biodiversität in Deutschland gibt es aktuell einen von SDSN koordinierten Beitrag, welcher von über 300 Wissenschaftler*innen unterstützt wird, konkrete Impulse: Naturschutzpolitischer Aufbruch jetzt: Für ein Jahrzehnt des naturschutzbasierten Klimaschutzes und der Biodiversitätspolitik

Geschwindigkeit und Konsequenz unseres Handelns müssen dabei einer Krise angemessen sein.

Der bekannte Umweltwissenschaftler Prof. Dr. Vaclav Smil sagt zu Recht: „Ohne eine intakte Biosphäre gibt es kein Leben auf unserem Planeten. Das ist ganz einfach. Das ist alles, was man wissen muss.“

(Danksagungen: Ich danke Sabrina Schulz, Adolf Kloke-Lesch, Sophie Lokatis, Julien J. Gupta und Arnulf Köhnke für ihre hilfreiche Kritik an Entwürfen dieses Beitrages.)

Der Autor / Die Autorin

Dr. Gregor Hagedorn

Museum für Naturkunde Berlin

Dr. Gregor Hagedorn studierte Biologie in Tübingen und an der Duke University (NC, USA). Von 1992 bis 2013 arbeitete er am Julius Kühn-Institut, Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen. 2007 wurde er an der Universität Bayreuth in Biologie und Informatik promoviert. Seit 2013 arbeitet er im Museum für Naturkunde in Berlin.